Glück schwindet, wenn man es nicht teilt
Gestern spätabends
auf der Heimfahrt im Radio: Wachstum steht dem Wohlstand im Weg. Dem
Zeitwohlstand zum Beispiel. In Gedanken formt sich ein Satz: Es ist an der Zeit,
sich wieder Zeit zu nehmen, um wesentliche Dinge zu erledigen, sich um andere zu
kümmern, sich um sich selbst zu kümmern, um nicht zu verkümmern irgendwann. Es sind
nicht Dinge, die uns glücklich machen, sondern Erfahrungen, sagt die Sprecherin
und zitiert eine psychologische Studie. Glück schwindet, wenn man es nicht
teilt, denke ich. Weshalb Wachstum, wenn keine Zeit bleibt, das Geschaffene zu
genießen, fragt die Stimme aus dem Radio. In Gedanken frage ich zurück: Gibt es
ein MEHR, ohne dass auf irgendeiner Seite ein WENIGER entsteht? Es gibt Dinge,
auf die zu verzichten es sich lohnt, sinniere ich weiter, weil sich der
Verzicht im Nachhinein als Gewinn herausstellt, als Befreiung von
vermeintlichen Ankern, die man geworfen hat im Glauben, damit Sicherheit zu
gewinnen, die in Wahrheit aber ein Weiterkommen verhindern. Wie das Seil, das
ein bequemes und sicheres Gehen ermöglicht. Den Weg aber, den Weg bestimmt man
nicht selbst, den Weg bestimmen andere. Es kommt mir vor, als würde ich mit der
Stimme aus dem Radio kommunizieren. Wir tauschen Gedanken aus, ein Dialog
entsteht. Plötzlich bewegen sich zwei leuchtenden Punkte am Straßenrand. Meine
Fäuste umklammern das Lenkrad, mit beiden Beinen drücke ich Kupplung und
Bremspedal voll durch. Mein Herz rast, während ich dem Reh, zu welchem das
Augenpaar gehört, beim Überqueren der Straße zusehe. Lautlos verschwindet es im
Wald. Ich fahre weiter, vorsichtiger als zuvor, stelle fest, die Radiosendung
ist aus. Ich bin wohl nicht der einzige, dem es die Sprache verschlagen hat.