Nachrichten im Schneetreiben



Dicke Flocken fallen vom Himmel, im Licht der Straßenbeleuchtung schimmern sie wie ein Meer kleiner weißer Quallen. Am Boden vereinen sie sich kurzzeitig zu einer hellen Decke. Der Schnee ist nass, der weiße Schleier verschwindet kaum sichtbar geworden. Unwillkürlich denke ich an das, was ich gestern gelesen habe: Zehntausend Menschen pro Jahr wählen den Freitod in Deutschland, eineinhalbtausend sind es in Österreich, zwei Personen pro Minute weltweit. Zart und flüchtig erscheint mir das Leben, umso zäher die Fassade, die nicht zum Schutz dient, sondern zum Verstecken unangenehmer Wahrheiten. Bald ist Weihnachten. Besonders zu Weihnachten. Anderswo trinkt man sich einfach zu Tode, wie in Russland. Für mehr als die Hälfte aller Todesfälle dort (bei den Fünfzehn- bis Fünfundfünfzigjährigen) ist Alkoholmissbrauch verantwortlich. Auch sonst wirken die Nachrichten, die man täglich liest, nicht gerade aufmunternd: Mehr als die Hälfte der spanischen Jugendlichen ist ohne Arbeit, es gibt so gut wie keine Sozialbeiträge, jedes vierte Kind lebt unter der Armutsgrenze, vierhunderttausend Familien leben auf Kosten der Großeltern. Sparen geht nicht, wenn man ums Überleben kämpft. In Griechenland muss der Durchschnitt mit weniger als fünfzehntausend Euro brutto im Jahr auskommen, Platz eins in Europa nehmen die Hellenen nur im Korruptionsindex ein. In Deutschland beglückwünscht man sich derweilen gegenseitig und übersieht, dass die Armut nirgends (außer in Rumänien) so stark zugenommen hat, wie im Land der hängenden Mundwinkel. Armut und Ausweglosigkeit ist mittlerweile vererbbar, je nachdem wo und in welche soziale Schicht man hineingeboren wird. Der Schneefall wird stärker, die Sicht nimmt ab. Wie eingehüllt fühle ich mich, weit weg von allem. Die Umgebung verschluckt jeden Laut, nimmt meine Gedanken in sich auf, trägt sie fort, als hätte ich sie dadurch der ganzen Welt mitgeteilt. Das fühlt sich gut an.