Schreiben. Der Versuch einer Erklärung



Schreiben ist, seine Gedanken auf Reisen zu schicken. Sie gehen statt deiner in die Städte hinein, ziehen durch Gassen, mitunter verwegene Straßen entlang. Schauen in die Häuser, betreten Lokale, finden Orte, die unter den Städten liegen, auf der anderen Seite, der versteckten, hinter der herausgeputzten Kulisse, dort, wo sie das wahre Zentrum vermuten, die Geheimnisse und das Verborgene. Sie ziehen durchs Land, durch Dörfer und über Wiesen, durch Wälder und über Berge. Sie gehen die Wege, die du selbst nicht gehen kannst, oder zu gehen dich nicht traust. Und sie begegnen Menschen. Sie lauschen, versuchen zu hinterfragen, führen Gespräche. Die Gedanken werden zu etwas, zu jemandem, ein anderer, irgendwer. Er ist mutig, stark, ängstlich oder schwach. Er ist alles, er ist nichts. Er ist ich, er ist du, er ist sie, er ist einer von vielen, aber immer einer von uns. Und so zieht er los, hinein in die Stadt, nicht wie ein Sturm, eher wie eine zarte Brise, eine, die die Haut streichelt, wenn sie sachte und kaum merklich an dir vorbeisaust. Er sieht einen Mann an einer Kreuzung stehen. Der Mann scheint auf etwas zu warten. Die Ampel schaltet auf Grün, dennoch bleibt er stehen. Leute gehen an dem Mann vorbei, kommen ihm entgegen, schauen ihn an, abschätzig, fragend, belustigt. Oder übersehen ihn, wie sie alles übersehen, was ihnen begegnet, auf sich gestellt, mit sich beschäftigt, weil das Leben es ihnen so beigebracht hat, andere finden darin keinen Platz. Der Mann wartet, betrachtet die alten Häuserzeilen, im Erdgeschoss auf modern renoviert, Geschäftslokale und Bars, so uniform wie nichts aussagend. Dann taucht eine Frau auf. Steht vor ihm und zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug, bläst den Rauch an seinem Gesicht vorbei. Sie trägt einen schwarzen langen Mantel, eine braune, enganliegende Hose. Schwarzes Haar, fleischige Lippen, kleine Schlitze, aus denen Augen hervorstechen, ein durchdringender Blick, ein misstrauischer. Hast du es dabei, fragt sie. Wahrscheinlich kennt er sie, und doch ist es, als würden sie sich zum ersten Mal begegnen. Er reicht ihr einen Umschlag. Sie öffnet ihn und begutachtet den Inhalt, steckt ihn anschließend in die Manteltasche. Fürs erste reicht das wohl, sagt sie jetzt leiser, als würde sie es mehr zu sich selbst sagen. Wie geht es ihm, fragt er, mit einer tiefen Stimme, etwas röchelnd, wie einer, der stark verkühlt ist. Sie schaut ihn an, man spürt ihre Überzeugung, aber auch den Vorwurf in ihrem Ausdruck. Ein Augenblick, ein Blickaustausch, der Schnelldurchlauf von so viel Durchlebtem. Der Streit, das Geschrei, Beleidigungen und eine Hand, die außer Kontrolle geraten ist, die nur will, dass alles aufhört, unkontrolliert, ungebändigt, verletzend diese Hand. Alles ist gesagt, ohne ein Wort zu sprechen. Sie dreht sich um und geht. Er bleibt zurück, erleichtert für einen Augenblick, so scheint es, für einen kurzen Moment nur, bevor die altbekannte Last ihn wieder einholt, sich auf seine Schultern legt, leidvoll und drückend. Schließlich macht auch er kehrt, geht langsam davon, mit gebeugter Haltung, weil das Leben manchmal schwer auf einem lastet. Das Leben und das, was davon übrig ist. Die Gedanken ziehen weiter und tragen das Vorgefallene mit sich. Jemand wartet darauf, davon zu erfahren. 

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